Gerade darüber sprach ich mit ihr vor ein paar Tagen. «Sie wollen wissen, was ich werden möchte?» sagte Nadja. «Übersetzerin oder Lehrerin der deutschen Sprache. Zuerst möchte ich aber praktisch arbeiten. Studieren kann ich ja auch an der Abendfakultät oder als Fernstudentin.»
Damals erzählte mir Nadja auch von ihrem neuesten Steckenpferd: sie sammelt eifrig — Nadja macht immer alles sehr eifrig und genau — deutsche Redewendungen. Sie zeigte mir stolz ein dickes Heft mit Hunderten von Redewendungen. Ich prüfte Nadja und kostatierte, daß sie alle Redewendungen, die in das Heft eingetragen sind, gut kennt. Bravo, Nadja! Wird sie diese Wendungen aber auch immer richtig gebrauchen konnen? Das ist die große Frage!
VIKTOR KORNEJEW KANN GUT DEUTSCH
Jetzt ein paar Worte über Viktor Kornejew. Ich lernte ihn kennen, als er etwa zwanzig Jahre alt war. Das war während des Krieges. Kornejew war damals Student und mein Schüler. In einer Gruppe, wo ich Deutsch unterrichtete, befand sich ein junger Mann, der dieses Fach sehr gern hatte und mir durch seine schöne Aussprache auffiel. Er interessierte sich für alles, was mit der deutschen Sprache in Zusammenhang steht 1. Das gefiel mir, seinem Lehrer, naturlich sehr, und ich stand ihm mit Rat und Tat 2 bei.
Einige Monate später ging Kornejew an die Front. Bald erhielt ich von ihm Briefe, deutsch geschrieben. Nach dem Krieg blieb er ein paar Jahre in Berlin. Wir sahen uns wieder, als er 1948 nach Moskau zurückkehrte, wo er als Film- und Theaterkritiker für eine Zeitung tätig war. Er beherrschte jetzt die deutsche Sprache ausgezeichnet, oder, wie man auch sagt, aus dem Effeff 3. (Diesem Ausdruck, den Nadja liebt, werden wir noch oft begegnen.)
Mit Viktor traf ich mich häufig. Wir plauderten über die verschiedensten Dinge, meist deutsch.
1in Zusammenhang stehen mit etwas — быть связанным с чем-либо
2mit Rat und Tat — словом и делом
3etwas aus dem Effeff verstehen (können, beherrschen) — знать что-либо отлично, «на ять»
7
NADJA, PAß AUF!
Am Morgen, ein Viertel vor zehn, traf ich mich mit Nadja im Zentrum vor dem Großen Theater. Nadja hatte ein hübsches blaues Jackenkleid an. Wir warteten zusammen ein paar Minuten auf Kornejew, der uns ja mit den Deutschen bekannt machen sollte.
«Hast du.keine Angst, Nadja?» fragte ich.
«Angst? Kommt nicht in Frage! 1 Wovor sollte ich denn Angst haben? Oder vor wem? Es ist überhaupt schwer, mir Angst zu machen 2.»
«Setz dich nur nicht aufs hohe Roß 3, Nadja!» erwiderte ich in ihrem Stil. Da wollte sie aber gleich wissen, woher diese Redewendung kommt. Ich mußte es erklären: «Die Feudalherren taten Kriegsdienste, sie dienten im Heer als Reiter. Hoch zu Roß schauten sie stolz auf das gewöhnliche Fußvolk herab. Daher bedeutet diese Redewendung ,auf etwas stolz sein‘ oder ,wichtig tun‘ 4. Also paß auf, Nadja! Denk daran, von einem hohen Roß leicht herunterfallen kann!»